Der Filialleiter Thomas Hürlimann Analyse Interpretation

EINLEITUNG:
Thomas Hürlimann setzt sich in seiner Kurzgeschichte „Der Filialleiter“ mit dem modernen Alltagsleben eines Ehepaares auseinander und beleuchtet auf diese Weise ihr immer gleich ablaufendes abendliches Freizeitverhalten, welches sich auf regelmäßigen Fernsehkonsum beschränkt. Im Zentrum der Geschichte steht der Filialleiter Willy P. und seine Ehefrau Maria-Lisa, die, wie jeden Abend nach erledigter Arbeit im Supermarkt, eine Fernsehsendung anschauen, als plötzlich ungeheuerliches geschieht: Maria-Lisa erscheint in einer Gesprächsrunde auf dem Bildschirm, in der sie sich über die emotionalen Defizite ihres Mannes äußert und der Moderatorin der Talkshow mitteilt, dass sie für ihren Mann nichts empfinde und dieser sie nur noch anekle. Ihr Mann reagiert zunächst geschockt und sieht sein Ansehen als Filialleiter des eigenen Supermarktes geschädigt. Kurz darauf verfällt er aber wieder in die allabendliche Routine und lässt sich vom Fernsehangebot ablenken. Als die Spätausgabe der Tagesschau beginnt, ist der Vorfall schon wieder vergessen: Willy und seine Frau sitzen wieder gemeinsam auf dem Sofa, trinken Bier und knabbern Salzstangen.

Mit dieser Talkshowszene im Mittelpunkt des Geschehens hinterfragt Thomas Hürlimann kritisch den TV-Alltag der Eheleute. Ihre Liebe und ein erfülltes Leben sind in der alltäglichen Routine der Arbeit und des Fernsehkonsums abhanden gekommen. Der Text führt auf diese Weise Kommunikationsprobleme eines einfachen Ehepaares vor, deren häuslicher Lebens-mittelpunkt der Fernseher ist. So findet Leben nicht mehr statt, sondern wird ersatzweise als TV-Realität konsumiert.

HAUPTTEIL:
Bereits im ersten Satz der Geschichte werden die Eckpunkte des Geschehens in einer Alliteration benannt: „Als der Filialleiter des Supermarktes auf dem Fernsehschirm seine Frau erblickte, erschrak er zu Tode.“ (Z. 1/2) Mit dem Filialleiter, seiner Frau und dem Fernsehapparat wird auf diese Weise der Fokus auf eine ‚Dreiecks-Beziehung’ gelenkt, die das Thema der Geschichte, welches sich noch entfalten wird, konzentriert auf den Punkt bringt: Der Filialleiter wird mit zwei Realitäten, mit zwei Ausprägungen seiner Frau, konfrontiert. Die Szene im Fernsehen und ihr Verhalten vor den laufenden Kameras stehen damit im direkten Kontrast zur Situation im Wohnzimmer vor dem Fernseher, wo das Ehepaar einträglich nebeneinander sitzt. Der Filialleiter nimmt erschrocken die „Bildschirm-Maria-Lisa“ (Z. 16) wahr, wie sie sich „im schicken Blauen“, in einer „größeren Runde“ (Z. 3/4) der Fernsehöffentlichkeit präsentiert. Das blaue Kostüm oder das Blaue Kleid der Fernsehshow steht dabei im starken Kontrast zur Bekleidung des Ehepaares vor dem Fernseher – es wird beschrieben, dass der Ehemann nur „mit Unterhemd und Unterhose“ (Z. 37/38) bekleidet ist und für seine Frau kann man wohl ähnlich legere Kleidung annehmen, schließlich liegt die harte Arbeit des Tages hinter ihnen.
Somit verdeutlicht die Betonung „im schicken Blauen“ den Kontrast zur Alltagssituation. Ein weiterer Gegensatz lässt sich im Hinblick auf die „größere[n] Runde“ feststellen, wie sie sich in der Fernsehsendung präsentiert. Während der Filialleiter Willy und seine Frau Maria-Lisa zu Hause isoliert, wortlos und in Konzentration auf das Geschehen im Fernsehapparat auf dem Kanapee sitzen, findet in der Gesprächsrunde Kommunikation statt. Maria-Lisa äußert sich gegenüber der Moderatorin sehr deutlich, wie sie zu ihrem Mann steht: „’Mein Willy ekelt mich an.’“ (Z. 20) Maria-Lisa diskutiert in aller Öffentlichkeit über das Phänomen „Affekteverkrümmung“ (Z. 22) und spricht das „emotionale Defizit“ (Z. 30/31) ihres Ehepartners an. In der Fernseh-Realität findet also diejenige Kommunikation statt, die in der Wohnzimmer-Realität nötig wäre. ( man kann auch sagen fehlt) Doch Maria-Lisa äußert auf dem heimischen Sofa keinerlei Gefühle und lässt die Stille zwischen sich und ihrem Mann einfach zu: Sie äußert sich in der Alltags-Realität in direkter Rede nur ein einziges Mal und das auch nur, um auf das kalt gewordene Wasser in den Fußbädern aufmerksam zu machen (Z. 39). Das Wasser ist kalt geworden – wie auch die Gefühle und das Leben zwischen den Eheleuten.

Besonders an einer Textstelle wird deutlich, dass der Filialleiter von den beiden Realitäten und Bildern seiner Frau, die sich ihm auf dem Bildschirm und dem heimischen Sofa präsentieren, verwirrt ist. Der Protagonist charakterisiert ihr Verhalten und Auftreten im Fernsehen als „flacher als im Leben“ (Z. 19) und spricht von ihrem „Was-darfs-denn-sein-Gesicht“, welches sie „aufgesetzt“ (Z. 19) habe. Er erkennt, dass das Fernsehen nicht die Frau darstellt, die sich ihm Tag für Tag präsentiert, sondern eine für ihn „flachere“, eindimensionalere Person. Andererseits erkennt er in ihrem typischen ‚Verkaufsgesicht’ ein alltägliches Verhaltensmuster, dass auch im Fernsehen sichtbar ist. Diese Verwirrung, die sich in der Verschwimmung der Realitätsebenen äußert, steigert sich im nächsten Abschnitt des Textes noch einmal drastisch: Nachdem es dem Filialleiter endlich gelingt, seine Augen vom Fernsehapparat zu lösen, „versuchte [er] seine Umgebung unauffällig zu überprüfen. Jedes Ding war an seinem Platz.“ (Z. 24/25) An diesem Punkt angelangt, versucht er, seine Verhaftung in der Realität zu überprüfen und untersucht, ob alles noch so ist, wie es bisher war, ob der Alltag noch immer in seinen gewohnten Bahnen verläuft: „In der Ecke stand der Gummibaum, an der Wand tickte die Kuckucksuhr, und neben ihm saß die Frau, mit der er verheiratet war. Kein Spuk – Wirklichkeit!“ (Z. 25/26) Die Parallelität des Satzbaus, die bei der Beschreibung der Wohnung deutlich wird, enthüllt die spießig-kleinbürgerliche Normalität der Einrichtung und macht dem Filialleiter schließlich klar, dass er nicht in einem Traum gefangen ist, sondern mit einer realen Situation konfrontiert wird. Die Maria-Lisa im Fernsehen und seine Frau neben ihm auf dem Kanapee begegnen ihm gleichzeitig: „Maria-Lisa war auf dem Bildschirm, und gleichzeitig griff sie zur Thermosflasche, um in die beiden Plastikeimer heißes Wasser nachzugießen.“ (Z. 26-28) Doch er zieht keinerlei Konsequenz aus diesem krassen Gegensatz, so dass Willy P. den Kontrast zwischen der Fernseh-Realität und der Wohnzimmer-Realität nicht zum Anlass nimmt, die Kommunikationslosigkeit zwischen ihm und seiner Ehefrau zu durchbrechen.

Zwar greift er zwei Mal nach dem Arm seiner Frau, doch dies geschieht im ersten Schock der Erkenntnis, als er mit den überraschenden Aussagen seiner Frau konfrontiert wird: „’Maria-Lisa’!, entfuhr es dem Filialleiter, und mit zittriger Hand suchte er den Unterarm seiner Frau.“ (Z. 10-12) „Der Filialleiter hielt immer noch Maria-Lisas Arm. Er schnaufte, krallte seine Finger in ihr Fleisch und stierte in den Kasten.“ (Z. 17/18) Bezeichnenderweise schaut er seine Frau, nachdem er von ihren wahren Gefühlen erfahren hat, nicht an, sondern konzentriert sich weiter auf das Leben, die Realität im Fernseher und nimmt die Persönlichkeit auf dem Sofa neben ihm gar nicht wahr, was vor allem durch das Verb „stieren“ (Z. 18) verdeutlicht wird. Die Kommunikation findet nur mit und über den Fernseher statt. Der „Schock“ des Filialleiters (Z. 6) gipfelt schließlich darin, dass er nicht einmal mehr sein Feierabendbier richtig genießen kann: „Er griff zum Glas und hatte Mühe, das Bier zu schlucken“ (Z. 32). An dieser Stelle wird die Motivation seines Schocks deutlich und macht letztendlich klar, dass er keine Angst vor der Zerstörung seiner Ehe und dem Verlust der Liebe seiner Frau hat, sondern allein die Vernichtung seines Supermarktes und seines Rufes als Filialleiter fürchtet: „Hinter seinem Rücken war Maria-Lisa zu den Fernsehleuten gegangen. Warum? Willy hatte keine Ahnung. Willy wusste nur das eine: Vor seinen Augen wurde sein Supermarkt zerstört.“ (Z. 32-35) Dieses „Warum“ bleibt still – der Filialleiter denkt es nur für sich und spricht es nicht aus. Genau diese Frage, seiner Frau gestellt, hätte die Kommunikationslosigkeit durchbrochen und die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit der Situation ermöglicht. Doch das egoistische Denken des Protagonisten lässt ihn die Frage nicht aussprechen, was durch die Verwendung und Wiederholung des Vornamens „Willy“ (Z. 33/34) deutlich wird: Er steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen, er spekuliert, welche Auswirkungen der Fernsehauftritt seiner Frau auf ihn und sein Geschäft hat, ohne sich klar zu werden, dass das Verhalten seiner Frau ihre gemeinsame Ehe beeinflussen könnte.

Ab Zeile 36 legt sich schließlich der Schock des Filialleiters wieder und er kehrt in die Alltagsroutine seines Fernsehabends zurück, als wäre er nie mit dem Fernsehauftritt seiner Frau konfrontiert worden: „Als die Spätausgabe der Tagesschau begann, saßen sie wieder auf dem Kanapee, Maria-Lisa und der Filialleiter, Seite an Seite, er trank sein Bier und sie knabberte Salzstangen.“ (Z. 41-43) Betrachtet man die direkt vorangehenden Zeilen, so ist festzustellen, dass die Protagonistin in der Wohnzimmer-Realität zum ersten Mal handelt und greifbar ist: „Maria-Lisa reichte ihm das Frotteetuch, aber der Filialleiter stieg noch nicht aus dem Eimer“ (Z. 36/37) „’Das Wasser wird kalt’, sagte Maria-Lisa. Der Filialleiter rieb sich die Füße trocken, dann gab er Maria-Lisa das Tuch.“ (Z. 39/40) Die Ehefrau des Filialleiters handelt an dieser Stelle bezeichnend: Sie bekräftigt und unterstützt das allabendliche Fußbad und zieht ihren Ehemann somit in die Alltagswelt der Routine zurück. Es hat sich nichts am Tagesablauf geändert. Nach dem Arbeiten kommt die Entspannung beim Fußbad und beim Fernsehkonsum – auch wenn die Situation mit der Fernsehshow eigentlich alles hätte ändern müssen. Die Routine, welche im Fußbad deutlich wird und von der Frau stoisch weiterverfolgt wird, überdeckt die Lieblosigkeit und Kommunikationslosigkeit der Beziehung. Am Ende bleibt der Leser verwirrt und ratlos zurück. Eingefangen und abgeschottet durch das personale Erzählen, kann er nicht feststellen, warum Maria-Lisa in der Fernsehshow aufgetreten ist. Der Protagonist beantwortet die Frage nach dem „Warum“ nicht und so bleibt dem Leser nur die Spekulation: Hält Maria-Lisa der Alltagsverlogenheit der Wohnzimmer-Realität mit ihrem Auftritt in der Talkshow den Spiegel vor oder möchte sie sich nur in aller Öffentlichkeit inszenieren? Eines lässt sich über den Schluss, das Vergessen der Fernseh-Realität und die Rückkehr in die Routine sicher sagen: Mediale Wahrheiten bestehen nicht lange.

SCHLUSS:

Zwischen dem Filialleiter Willy P. und seiner Frau Maria-Lisa findet keinerlei Kommunikation statt. Während er nur auf das Fernsehgeschehen reagiert, den entstehenden Gegensatz zur Wohnzimmer-Realität ignoriert und nur nach Folgen für sein Leben sucht, reagiert seine Frau auf die Provokation ihres Fernsehauftrittes mit Schweigen. Sie handelt erst, als die Routine des Fußbades sie zum Handeln zwingt. Auf diese Weise hat es Thomas Hürlimann in seiner Geschichte „Der Filialleiter“ auf beeindruckende Weise verstanden, dem Leser die schädliche Wirkung von Alltagsroutine und Fernsehkonsum auf eine partnerschaftliche Beziehung vor Augen zu führen. Die TV-Konsumenten erleben leblos und lieblos die Welt vom Sofa aus – jeweils reduziert auf ihre Passivität. In der modernen Welt des alltäglichen Medienkonsums darf somit nicht vergessen werden, dass außerhalb der eindimensionalen Welt des Fernsehers eine reale Welt und ein erfülltes Leben wartet.

4 comments… add one
  • Toll einfach Super das ganze! Gut gemacht Kevin!
    Du machst fortschritte !

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  • tooooooooooooooooooooooooollllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll0

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  • Du solltest dir dir die Definition einer Interpretation einer Kurzgeschichte nochmal ansehen und auch den korrekten Schreibplan anwenden (These-Beleg-Eingehen auf den Beleg). Bei dir war es Beleg-These-Eingehen auf den Beleg. Auch sollte die kurze Inhaltsangabe sachlich formuliert und werden und es soll keine Spannung aufgebaut werden (Keine Wörter wie plötzlich). Ansonsten ist deine Interpretation recht gelungen, wenn man von den Fakt absieht, dass du viele Teile des Textes nicht gedeutet hast wie die Einrichtung der Wohnung der Beiden. Aber ansonsten weiter so 😀

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  • Die Interpretation ist gelungen formuliert, aber enthält Fehler. Es wird u.a. von einer Alliteration geschrieben, obwohl eine Hyperbel gemeint ist. Des Weiteren fehlt der Blick auf die tiefere Bedeutung des Fußbades. Als Freund der Orthographie und Interpunktion empfehle ich auch dem Kommentator Horst mit gutem Beispiel voranzugehen: das G(!)anze / Gut gemacht,(!) Kevin. Du machst F(!)ortschritte.

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